Ich
war nie in Sillian, ich war nie in Osttirol, ich weiß nur, dass von der Grenze
weg ein Weg hinüber führt, den zu fahren mich nie jemand gehindert hat außer
einer Rücksichtnahme, Land nicht zu betreten, das dadurch, dass es nicht
betreten wird, Vorstellung bleibt. Land nicht zu entweihen, das mir Land von
besonderer Unschuld ist. Unbetretenes Land. Ich folge mit dem Finger auf der
Landkarte "Heimatland Südtirol"[1]
der Rienz durchs Pustertal,
Toblach, Innichen, Vierschach, Winnebach, dann enden die Dörfer, das
Bergrelief, der Fluss, die Landschaft, und eine dünne Linie führt nach
Sillian, ein Pfeil weist nach Lienz, Ende des Blattes. Links Außervillgraten,
noch weiter links Innervillgratten und über die angedeuteten Berge gebogen die
Schrift Defreggen. Das ist mein Bild von Osttirol.
Im
Traum einmal bin ich gefahren, Wege der Ernüchterung, die ich vergessen habe,
denn drüben war es wie hüben. Wenn du Bozen denkst und nie dort warst, dann
malst du dir ein Bild aus. Vielleicht hast du etwas gelesen, wie Mozart damals
über dem Obstmarkt wohnte und den Geräuschen lauschte und seinem Vater davon
schrieb, vielleicht hat man dir erzählt von den Gerüchen einer Stadt und einer
Ortschaft, dass du jedes Mal, wenn dir der Name genannt wird, diesen Geruch
riechst und liebst. Oder die Nennung des Namens lässt Musik erklingen, zu der Mädchen
tanzen, ohne dass du weißt warum, aber du stellst dir vor, es sind schöne Mädchen,
deren Gesichter du beim Erwachen vergessen hast.
Ich
war nie in Osttirol. Der unbekannte Ort hat etwas Besonderes für mich.
Nordtirol kenne ich ein wenig, ich war da und ich war dort. Wo ich nicht war,
habe ich Bezugslinien, bin durchgefahren, habe Geschichten gehört oder
Geschichte gelernt. Innsbruck. Zillertal. Stubai. Ötz. Piburg. Oder Hall, das
Salzlager. Die Autobahn. Die Brücke. Der Fluss. Der Zoo. Die Leute dort: der
Pfaundler; der Flora, der Weingartner; den Partl haben wir gekannt; vorher den
Wallnöfer; den Bürgameista werden wir kennen lernen. Diese und jene. Die Uni.
Die Uniklinik. Den Geheimrat im Referat S, Frau Hofrat selbstverständlich. Wenn
wir Südtiroler davon reden, dass wir von Tirol getrennt wurden, dann denken wir
an dieses Tirol. Wir denken an den Brenner, der Grenze war und jetzt ein Schild
an der Autobahn ist. Die Geschlechtsmerkmale eines Grenzortes sind entfernt,
Schlagbaum, Zollamt, die Finanzer diesseits und die Gendarmen jenseits, diese
hier freundlicher, jene dort herber, wenn die Zeiten banal und friedlich und
nicht groß und politisch waren. Jetzt ist der Ort nicht mehr Grenze und ist nur
noch Erinnerung an Grenze und ist Ausbleiben einer Gegenwart, die ihn neu
benennen müsste, aber noch ist die Erinnerung im Weg, dass dieser Ort Grenze
war. Dass jenseits des Brenners anderes Land ist, woran misst man es, wenn das
Benzin nicht mehr billiger ist und das Geld den gleichen Klang hat? An der
ausgeprägteren Hinterhältigkeit der Gendarmen, wenn jetzt auch in Sterzing die
Wegelagerer schon an den Baustellen lauern? An den unterschiedlichen
Promillegrenzen, die sich mit dem Charme von EU-Richtlinien annähern? Am
Piepsen des Handys, das auf max umschaltet? An den Adressen, von denen der
gespannte Mann, der den Brenner noch geduckten Hauptes und gefüllten Sackes überquert,
Entladung und Erleichterung erhofft, weil jenseits der Grenze die Lust frei im
Handel ist, wenn sie auch gleich schal schmeckt oder noch schaler? Tirol ist
frivoler, gieren wir; stieren wir.
Ich
weiß, ich schweife ab, denn ich muss jener Grenze ausweichen, die am Ende des
Pustertals vor dem Niemandsland gezogen ist, das Osttirol heißt. Der Dekan von
Tramin ist ein Webhofer, und er sagt, die Webhofers sind Villgrattener. Ich war
nie in Villgratten, aber so wie der Dekan von Tramin das Wort ausspricht, muss
es ein besonderer Ort sein. Ich weiß von der Villgrattener Kulturwiese, habe
Kunde von der Schande und vom Ruhm dieses Ortes, aber ich war nie in Villgratten.
Ich werde nie hinfahren.
Bei
uns in Auer, im Pub am Bahnhof, wurden vor ein paar Jahren Osttiroler gesichtet.
Sie haben Nachricht gebracht vom toten Dichter drüben, der auf Wände
geschrieben hat, ohne gehört zu werden. Sie wurden nicht gehört, sprachen vor
nicht erschienenem Publikum und stummen Wänden, die sie so sehr rührten, dass
die Wände anfingen, Sehnsucht zu verspüren. In Auer im Pub am Bahnhof haben
sich vier Wände eine Vorstellung von Osttirol gemacht, ohne je dort gewesen zu
sein. Vorstellung von unbetretenem Land. Ich kenne die Walder-Saga und sie
beruhigt mich, es wird noch geschossen in einem Teil Tirols. Ich kenne den
Schett Andreas, den Hallodri, der Trauermärsche stiehlt und zum Lachen bringt,
das alles sich umdreht bei der Begräbnis (ich weiß, es heißt das Begräbnis,
aber wir sagen die Begräbnis, denn anständige Trauer ist weiblich, hat
Klageweib zu sein; wie soll man sonst Andacht haben und heulen bei einem
Neutrum?). Ich weiß von Osttirol, das ist das Land, wo es einer Musikkapelle
bei der Begräbnis passieren kann, dass ihr die Instrumente einfrieren und der
Ton wie Raureif zu Boden fällt. Ich weiß vom Lehrer Trojer, der festgehalten
hat, was es an Grauslichkeiten gibt hinter herausgeputzten Geranienbalkonen und
was zum Tod alter Jungfrauen im Nachruf stand, sie war streng katholisch und seriös.
Ich
war nie in Villgratten, habe nie auf die Kulturwiese geschifft, auch keinen
Brand gelöscht mit meinem Wasserstrahl. Ich war nie in Sillian. Ich weiß vom
Ruhm dieses Ortes, in dem lange Zeit alles billiger war als bei uns im Pustertal.
Es wäre ein schändlicher Grund gewesen hinzufahren, außerdem wohne ich da, wo
man, um billiger einzukaufen, ins Welschland fährt, früher Südtirol, weil
Tirol der Rest von Bozen aufwärts war bis Kufstein, jetzt Trentino, unser Rumpf
und Einkaufszentrum. Die gegenüberliegende Straßenseite von Kufstein
sozusagen, wohingegen Osttirol gegenüber dem Vinschgau liegt, von dem niemand
auf die Idee käme, Westtirol zu sagen. Vielleicht der Westen.
Osttirol.
Das könnte die DDR Tirols sein, aber das ist es nicht, auch nicht in der
Vorstellungswelt, in der das Gras an den Straßenrändern höher stehen darf,
bevor die Landschaftsfriseure mit ihrem Rasierapparat kommen. Ich will nichts
wissen von Osttirol, um nicht zu erwachen aus dem Trug, den ich mir zurechtlege.
Ich will keine Antwort auf meine Fragen, denn ich frage nicht, ich klage an und
klage weh: Sind eure Bahngeleise überwuchert von wildem Gebüsch, leben
Eidechsen darin oder sind sie kahl geschoren und mit Pflanzenschutzmitteln blond
gefärbt? Gibt es Misthaufen, Hühner, Ochsenkarren und Stiere in euren Dörfern?
Oder stinken ewig auch eure Felder und sitzen die Bauern auf Traktoren, als wären
sie Feldherren und führen sie in den Krieg? Dürfen eure Viecher Sex
miteinander haben? Habt ihr noch Dorftrottel in euren Dörfern, vertrocknete
Jungfrauen? Habt ihr das?
Wenn
ich nicht über die Grenze fahre, bleibt mir mein Niemandsland, bleibt mir mein
Bild, dass an den Einfahrten eurer Dörfer Stadel und Schupfen stehen, und
Wiesengras hoch wie ein Mann, wo es bei uns geschniegelte Felder sind und
Gewerbegebiete mit Handwerkshallen, die im bewohnten ersten Stock einen
Holzbalkon vortäuschen. Ich sehe alte Weiber, die Karren ziehen, Kühe, die
Stiere bespringen, Bauern, die den Schurz heben, und Mädchen so schön wie in
den Träumen, aus denen ich erwache ohne Erinnerung oder mit einer sehr blassen.
Gibt
es den gelbschwarzen Salamander auf euren Bahnstrecken, gibt es Wiesel, die über
Zebrastreifen eilen, gibt es Wiesen, die nach feuchten Küssen duften? Gibt es
meine Kindheit dort bei euch, von der mir träumte und aus der ich ohne
Erinnerung aufgeschreckt bin?
Ich
klage nicht, ich frage an: Gibt es noch Bahnschranken bei euch, zu denen ein Glöcklein
klingelt, wenn sie gesenkt oder gehoben werden, oder ist jeder Bahnübergang
unterführt, überführt, automatisiert und jeder Klang aus der Landschaft
genommen? Mit Andreas Schett haben wir einmal sehr ernst und zum letzten
entschlossen über Heimat gesprochen, und er wollte dazu Kirchturmglocken
erklingen lassen, von jedem Kirchturm die seine, denn Heimat, fanden wir, hat
mit Geräuschen zu tun, die wir in der Kindheit hören und nie mehr finden. Ich
würde nach Osttirol ziehen, wenn ich wüsste, dass es dort noch Bahnschrankenglöckchengeklingel
gibt. Ich bräuchte viel von dem Geläute, viel und regelmäßig. Ich bin an
einem Bahnhof aufgewachsen. Mit hohem Gras entlang den Geleisen, Eidechsen
zwischen den Steinen, Abzuggräben, in denen das Wasser steht und fault. Einmal
im Jahr einen Salamander sehen. Keine Unterführungen. Und jede Stunde ein Zug.
Ich
war nie in Osttirol, ich muss jeden Besuch, der mich über die Grenze bringen könnte,
solange wie möglich hinausschieben, denn solange ich nicht über die Grenze
fahre, bleibt sie mir Verheißung. Ich könnte bis Winnebach fahren und hinüberschauen
in der Annahme, drüben verliert die Landschaft die Konturen wie auf meiner
Reliefkarte und verblasst zu weißem Licht, verblasst zu meiner Erinnerung, die
ich vergessen habe. Der Name hat einen Klang, der mir eine unbetretene Welt
verspricht, aber wenn ich hinführe, würde ich Orte sehen, die überall sein könnten.
Ich kenne Tirol. Ich kenne den Mythos von Tirol. Ich bin gesäugt worden mit der
Milch der heiligen Tiroler Kühe. Es sind ausgelaugte Kühe. Ich kann die Milch
nicht mehr trinken. Ich lasse sie in der Sonne stehen, bis sie stockt. Ich kann
nichts mehr hören von Tirol. Ich kann Tiroler Speck nicht mehr schmecken, ich
stelle ihn in die Sonne und warte, bis er ranzig wird. Ich will Andreas Hofer
nicht in Lederhosen vor mir sehen. Ich will ihn auch nackt nicht sehen. Ich
stelle ihn in die Sonne und warte, bis er auftaut aus seiner Heldenstarre. Wir
glauben, dass aus dem Sperma des Tiroler Mannes im Schoß Tiroler Frauen
besondere Menschen werden, mit Tiroler Muttermilch aus Tiroler Brust zügeln wir
Helden, die wir in Kämpfe schicken, an die wir nicht glauben, blutleere
Gestalten, die wir nicht umarmen, wenn sie heimkehren, denn der Tiroler weint
nicht. Ich
habe genug. Ich habe genug von der Heimatmilch. Oh, es ist gesunde Milch, sie
wehrt Bakterien ab, sie macht immun, sie schützt. Pfui Teifl.
Ich
kann auch keine Schützen mehr sehen. Ich war selber einer. Ich bin marschiert
im Gleichschritt, weil ich glaubte, der Gleichschritt muss sein. Wir sind in
Schlachten gezogen. Wir haben Kämpfe geführt. Wir haben den Teufel besiegt,
der ein Walscher ist. Wir haben Schnaps getrunken, in Maßen und mit tiefer
Versenkung in Augen schöner Marketenderinnen in aller Früh bei der
Vergatterung vor dem Ausrücken, in Unmengen abends, wenn wir wankten und durch
unser Wanken den Untergang der Heimat auszubalancieren versuchten, denn je mehr
wir wankten, so glaubten wir, desto weniger würde die Heimat wanken, je tiefer
wir uns zum Umfallen neigten mit unserem Schnapsglas in der Hand, desto fester würde
sie stehen und widerstehen. Ich kann Tirol nicht mehr hören, mir graust' s
dabei, und wär das Wort nicht so gewohnt, ich müsst es auskotzen. Tirol wie
eine gespiebene Gerste, genau das ist es: so oft in uns hineingestopft, dass wir
es immer wieder hineinlöffeln in uns, obwohl wir es auskotzen möchten, denn
Tirol ist nicht: das Land, die Hänge, die Wiesen, die Bauern, die Leute in
Innsbruck mit ihrem kehligen K, wenn sie Cazzo sagen und uns Südtiroler
nachmachen, ist nicht die Uni, an der unsere Studenten verwöhnt werden, sind
nicht meine rar werdenden Freunde, ist nicht der Pfaundler, ist nicht der Flora,
ist nicht der Weingartner, wird auch nicht der van Staa sein, ist kein Partl,
der weiß, wo wir den Most holen.
Tirol ist eine Scheußlichkeit, eine Verdichtung aller Scheußlichkeiten in fünf
Buchstaben, ist ein Wort, das unter der Last seiner Vergangenheit ächzt und stöhnt
und zusammenbricht, ist ein Klang, der hohl geworden ist, weil er nicht gesummt,
nicht ehrfürchtig wie ein Psalm in die Höhe gezogen wird, sondern blechern tönt
im Dröhnen der Musikantenstadlinsassen. Tirol ist kein Glas Wein, das wir gerührt
heben im Angesicht unseres Erkennens, es ist ein Fass, bis an den Rand und bis
zum Übergehen aufgeschenkt mit Blut und billigem Fusel und gelogenen Tränen.
Wir wischen nicht ab die Tränen unserer Helden und ihrer Frauen und ihrer
Kinder, der Narren und Deppen, die für Tirol jeden Tag in den Krieg ziehen würden,
wischen nicht ab die Tränen der Nachbarn, die wir verjagt haben, um unter uns
zu sein in Tirol, wischen nicht ab die Tränen der Nachbarn, denen der Bürgermeister
den Grund stiehlt, um ihn zu verbauen, wischen nicht ab die Tränen derer, die
im Namen Tirols Leberzyrrhose bekommen oder ersticken an der Aufrichtigkeit der
Leut.
Wir
können Tirol nicht mehr beweinen, weil wir es zu oft beweint haben. Das alte
Tirol. Das gemeinsame Tirol. Das Tirol, von dem wir getrennt wurden, das deshalb
draußen eigentlich Nordtirol ist, das aus uns Südtirol gemacht hat und aus Südtirol
Trentino, zwei Hälften oder drei Drittel mit einem Wurmfortsatz, der das verlängerte
Pustertal war und jetzt Osttirol ist. Zwei Hälften oder zwei Drittel, die zu
lange gegeneinander gehalten wurden, um noch zu einander zu passen, während
wir, gottlob, den Wurmfortsatz vergessen haben auf unserer "Mein
Heimatland"-Karte. Von Osttirol wurden wir nie getrennt, wir haben die
Grenze bei Winnebach nicht als Unrechtgrenze beweint, beklagt, bekämpft, wir
haben nicht in jahrzehntelanger Wiederholung die Winnebacher Grenze „überwinden“
müssen, mussten keiner verlorenen Gemeinsamkeit nachtrauern, mussten uns nicht
um neue Gemeinsamkeiten bemühen, durften Osttirol Osttirol sein lassen, einen
verklungenen Psalm in der Tiroler Wehleidigkeit. Die Winnebacher Grenze ist
gefallen, indem wir sie vergessen haben, indem wir darauf verzichtet haben, sie
zu überqueren, und indem wir uns mit dem Dekan von Tramin begnügen, wenn er
Villgratten sagt. Das ist meine Verheißung, wenn ich einmal tot bin, will ich
nach Osttirol. Aber nicht lebendigen Leibes.
Das
Land, das ich nicht kenne. Das einzige Tirol, über das ich noch nie einen
wahren Satz geschrieben habe, weil ich nichts weiß, nichts wissen kann, nichts
wissen will. Würde ich wissen, wäre der Zauber aufgehoben, würde das
Tirolisieren beginnen, das Vergleichen, das Preisevergleichen, das
Gemeinsamkeitsgetue, das Heldengestammle, die Tugenden, die den Trojer zum
Schmunzeln und zum Verzweifeln brachten. Hinter Winnebach die dünne Linie
weiter, irgendwohin wird sie führen, und es müssen die wirklich letzten
Tiroler sein, die dort leben, von denen wir nichts wissen, und solange wir von
ihnen nichts wissen, sind sie Tiroler, an die wir nicht glauben müssen. Es hat
da einen Schützenhauptmann gegeben, der nicht von Tirol geredet hat, der von
Pflanzen redete, von Luft, von Menschen, die Luft brauchen, irgendeine Luft,
meinetwegen auch Tiroler Luft, wenn sie nicht stinkt. Tirol war aussprechbar für
ein paar Sprechblasen lang, war aushaltbar sogar in einer Schützenrede, wo es
sonst zu einem Comic-Päng-Wort marschierender Figuren verkommen ist, Könige
und Helden der Lächerlichkeit, Wurzelmännchen, die so stramm marschieren, dass
man sie für Ameisentruppen halten könnte, würden sie uns nicht die Ohren voll
schreien mit Heimat, mit Befehlen, mit dem tirolischen Imperativ. Osttirol ist
die Vorstellung von einem Ort, wo Schützen, die in Tracht stolzieren, nicht
Pappfiguren sind, die sich die Lederhosen fest ausbeulen, damit man glaubt,
dahinter sei etwas. Osttirol ist eine vage, falsche Vermutung, mit der ich mich
belüge, dass sich in diesen Lederhosen, die von dünnen Beinen unter dickem
Wanst in Bewegung gehalten werden und im Takt zu einem fein federnden
Schnurrbart wabbeln, vielleicht doch intelligente Wesen verbergen könnten, wenn
man nur ihre gebrüllten Worte und ihre zackigen Gesten verstünde.
Ja,
das ist mein Osttirol. Mein unbekanntes Tirol und daher meine letzte Illusion,
dass Tirol etwas besonderes sein könnte, wenn man es in Ruhe ließe. Wenn man
nicht daran denkt, wenn man vergisst, dass es existiert. Osttirol gibt es nicht.
Was von dort zu uns vordringt, ist geläutert, ist destilliert, ist reiner
Geist, den wir wie einen kühlen Schnaps hinunterschütten können, ohne uns zu
schütteln oder uns im Gefühl zu schütteln, lötz, aber saugut. Hinterschattig
gelegen und benachteiligt von der großer Tiroler Weltpolitik, unverdorben und nüchtern
geblieben vom großen Tiroler Selbstbesäufnis, ungeschändet von der großen
Tiroler Vergewaltigung, das Jungfernhäutchen gerettet vor dem großen Tiroler
Volksrammeln. Nie werde ich nach Sillian fahren, denn solange ich nicht dort
war, gibt es ein Tirol, das rot ist wie die Liebe und weiß wie die Unschuld,
gibt es ein Tirol, das ich nicht kenne und mich ahnen lässt, Tirol gibt es
nicht.
[1] Heinz Matthias, "Heimatland Südtirol", Athesia, Bozen 1969, 10. Auflage 1994, ISBN 88-7014-127-6